Gewalt im eigenen Zuhause: Schutzeinrichtungen in Sachsen schlagen Alarm
Hier den ganzen Artikel lesen.Link öffnet in einem neuen TabBeleidigungen, Schläge, Stalking: Immer mehr Frauen werden Opfer von häuslicher Gewalt. In Leipzig sind die Zahlen besonders hoch. Das bringt Schutzeinrichtungen an ihre Grenzen.
Leipzig. Nach einem Spieleabend bei Freunden rastet er wieder aus. Svenjas Freund packt sie an den Haaren, schleift sie ins Badezimmer und drückt ihren Kopf in die Toilettenschüssel. Als sie sich wehren will, würgt er sie so lange, bis sie „Sterne sieht“. Der acht Wochen alte Säugling liegt während der Attacke im Nebenzimmer. So schildert Svenja Beck einen der beiden Tötungsversuche ihres Ex-Partners. Jahrelang war Beck demnach Opfer von seelischer und körperlicher Gewalt. „Ich habe damals überhaupt nicht gewusst, in was ich da geraten bin“, sagt die 38-Jährige aus Hessen im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
240.547 Personen haben laut Bundeskriminalamt im Jahr 2022 häusliche Gewalt erlebt – ein Anstieg von 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Opfer seien meist weiblich, die Täter zumeist männlich. Auch der Freistaat Sachsen verzeichnet laut Landeskriminalamt einen Anstieg von mehr als 10 Prozent. Besonders die Zahlen aus Leipzig stechen in der Statistik hervor: 20 Prozent mehr Fälle habe es 2022 im Vergleich zu 2021 gegeben.
Einen „deutlichen Anstieg“ gebe es auch bei den Hochrisikofällen, erklärt Ida. Ida ist im Gewaltschutz tätig und arbeitet in einem Frauenhaus in Leipzig. Aus Sicherheitsgründen will sie ihren richtigen Namen nicht nennen. Ein Hochrisikofall liege dann vor, wenn das Leben der betroffenen Frau in Gefahr ist – so wie damals bei Svenja Beck. Kommt es zur Tötung einer Frau, werden solche Gewaltverbrechen auch als Femizide bezeichnet. Femizid bedeutet, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden – also, weil sie Frauen sind. Als häufigste Form gilt die Tötung von Frauen durch Partner oder Ex-Partner.
Plätze im Gewaltschutz reichen nicht
Betroffene Frauen und ihre Kinder finden häufig Schutz in einem Frauenhaus. Laut der Fachstelle LAG Gewaltfreies Zuhause gibt es in Leipzig 59 Schutzplätze. Ausreichen würde das aber nicht mehr. „Es ist unser täglich Brot, dass wir Frauen ablehnen müssen“, erklärt Ida. Von Januar bis Oktober habe die Zentrale Sofortaufnahme der Frauenhäuser in Leipzig 151 Frauen und 161 Kinder ablehnen müssen. „Das ist natürlich emotional und psychisch extrem schwer auszuhalten für unsere Mitarbeiterinnen“, sagt Ida. Viele seien psychisch und physisch überlastet, das führe zu hohen Krankenstandszahlen.
Ähnliches berichtet die Leipziger Koordinierungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking (KIS). Im ersten Halbjahr 2023 hätten die KIS 242 Personen, bei denen es einen Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt gab, nicht beraten können. „Es muss ganz dringend und schnell etwas passieren, weil ansonsten das System zusammenbricht“, sagt Frauenhaus-Mitarbeiterin Ida. Es brauche mehr Mitarbeiterinnen, mehr Schutzplätze und bezahlbaren Wohnraum.
„Die Sensibilisierung, die mehr Menschen in Hilfenetze spült, bedeutet eine Ausreizung der Kapazitäten“, erklärt Lisa Rechenberg von der Fachstelle LAG Gewaltfreies Zuhause in Dresden. „Der Ausbau der Vernetzung und Sensibilisierung“ sei ein Mitgrund für die hohen Fallzahlen in Leipzig. In jedem Landkreis gebe es inzwischen eine Koordinierungsstelle, das sei „im Bundesvergleich was Besonderes“, so Rechenberg. Die Opferschutzbeauftragten der Polizei würden zudem „gut und eng mit den Beratungsstellen“ zusammenarbeiten.
Mangelnde Umsetzung der Istanbul-Konvention
Die von Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen genannten Forderungen sieht auch die Istanbul-Konvention vor, die 2018 bundesweit in Kraft trat. Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats zur umfassenden Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. In Sachsen gibt es dazu einen Landesaktionsplan, damit komme das Justizministerium „dem Auftrag nach, die Istanbul-Konvention, die seit 2018 geltendes Recht ist, umzusetzen“, erklärt Lisa Rechenberg.
In Leipzig würden neun weitere Schutzplätze fehlen, um die Mindestanforderungen der Konvention zu erfüllen, heißt es seitens der KIS. Nach Angaben des sächsischen Justizministeriums werde der seit 2006 bestehende Landesaktionsplan derzeit „neu gefasst“. Anfang 2024 soll der künftige Aktionsplan – mit Bezug auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention – vorgestellt werden. Nach Angaben der KIS habe das sächsische Justizministerium Mitte 2023 „alle Forderungen bezüglich des zusätzlich benötigten Personals abgelehnt“.
Raus aus der Gewalt
Erst nach fünf Jahren und einigen Trennungsversuchen hat Svenja Beck ihren Partner verlassen können. Im Moment falle es ihr wieder schwerer, über ihre Erfahrungen zu sprechen, „weil ich natürlich auch die körperlichen Reaktionen darauf merke“, sagt sie. Auch ihre Kinder seien „einfach traumatisiert“ und würden psychologische Hilfe in Anspruch nehmen müssen.
Aufgrund ihrer Erfahrungen hat Beck eine Selbsthilfegruppe und einen Verein gegründet, damit wolle sie anderen Betroffenen „einfach dieses Alleinsein wegnehmen“. Seither hält sie Vorträge und gibt Seminare zum Thema häusliche Gewalt und narzisstischem Missbrauch. Für sie war klar: „Wenn ich hier lebend rauskomme, dann muss ich darüber aufklären, was in solchen Beziehungen passiert“. (dpa)